Kardinal Kurt Koch Die Heiligen als Zeichen Gottes

Die Heiligen als Zeichen Gottes

MARGUERITE BAYS:

EINE HEILIGE DER GOTTESLIEBE UND DER NÄCHSTENLIEBE

Kardinal Kurt Koch

Die Heiligen als Zeichen Gottes

 

Immer schon haben die Menschen Zeichen gesucht, um ihr Leben zu interpretieren und zu verstehen, welcher Platz ihnen in der Welt zukommt. Im heutigen Evangelium erfahren wir, dass Jesus den Menschen seiner Zeit ein klares Zeichen gegeben hat, das sie bestimmt sofort verstanden haben: jenes von Jona nämlich, dem Propheten, den Gott nach Ninive geschickt hatte zur Bekehrung der Einwohner, und der drei Tage im Bauch eines Fisches verbracht hat und somit zu einem Typus wurde, der Jesus Christus vorankündigte, der drei Tage im Grab lag, bevor er von den Toten auferstanden ist. Das Zeichen von Jona ist also jenes Zeichen, das auf das tiefste Geheimnis des christlichen Glaubens hinweist, den Tod und die Auferstehung Jesu Christi.

Daher sind alle Personen, die dieses Zeichen durch ihr Leben verkörpern, lebendige Zeichen. Das ist in ganz besonderer Weise wahr bei der heiligen Marguerite Bays, deren dankbares Gedächtnis uns heute aus Anlass ihrer Heiligsprechung versammelt hat. Sie ist ein lebendiges Zeichen geworden, denn sie hatte auf eine ganz besondere Weise am leidenden Christus teil, indem sie an ihrem Leib und in ihrem Geist die Schmerzen Jesu in Getsemani und am Kalvarienberg teilte und sie die fünf sichtbaren Wundmale (Stigmata) des Gekreuzigten trug, die ihr grosses Leiden bescherten. Sie trug auch am Kreuz Jesu mit auf Grund der schwierigen Verhältnisse in ihrer Familie, insbesondere wegen einer ihrer Schwägerinnen, die sie ständig erniedrigte.

Die heilige Marguerite hat diese vielfachen Schmerzen in ihrem tiefen Glauben getragen, genauer indem sie täglich die heilige Messe besuchte, die für sie der Höhepunkt jedes neuen Tages war, an der eucharistischen Anbetung teilnahm, am Sonntag nach der hl. Messe den Kreuzweg meditierte, täglich den Rosenkranz betete und auf zahlreiche Wallfahrten zu Marienheiligtümern ging. Sie hat ihr Leben also nicht in einem Kloster verbracht, auch nicht in einer religiösen Gemeinschaft, sondern in der Welt. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Schneiderin. So ist sie zu einer Heiligen geworden, wie die Pfarreimitglieder von Siviriez es am 37. Juni 1879, ihrem Todestag, einmütig befanden: « Unsere Heilige ist gestorben ». Auf diese Weise hat sie uns gezeigt, und zeigt uns auch heute noch, was heilig werden und heilig sein bedeutet. 

 

Heilig werden: eine gemeinsame Bestimmung für alle Menschen

Am Leben und am Tod der heiligen Marguerite können wir erkennen, worin die Heiligkeit im christlichen Glauben besteht. Für sie hat die Heiligkeit nichts zu tun mit etwas Heldenhaftem oder Sensationellem, auch nicht mit ihren Wundmalen, die sie vor neugierigen Blicken zu verstecken wusste. Die Heiligkeit versteckt sich vielmehr unter dem Schleier des Unbedeutenden und Unscheinbaren im Alltäglichen. Ihre Liebe zu Christus und zu ihrem Nächsten zu leben im einfachen, gewöhnlichen Alltag, das war ihre Berufung zur Heiligkeit. Ihr Leben veranschaulicht, was die Heiligkeit im biblischen Sinne ist. Denn auf die grundlegendste Frage des christlichen Glaubens, welches denn der Wille Gottes sei, antwortet Paulus im ersten Brief an die Thessalonicher genauso grundlegend: « Der Wille Gottes, eure Heiligung » (4,3).

Darunter versteht Paulus, dass der Wille Gottes in seinem Kern für einen jeden von uns ganz einfach ist, nämlich die Heiligkeit. Die christliche Berufung zur Heiligkeit ist nicht einer Elite vorbehalten, sondern vielmehr absolut egalitär. Das demokratische Gleichheitsprinzip aller Mitglieder in unserer Kirche ist nirgends so umfassend umgesetzt wie in der Suche nach der Heiligkeit. Denn für Gott ist das Heiligsein eines jeden Christen nicht etwas Ausserordentliches, sondern im Gegenteil das Gewöhnliche, das Normale. Die christliche Heiligkeit besteht generell nicht in einem unmöglich nachzuahmenden Heldentum, sondern im gewöhnlichen Leben des Christen in Gott.

Alle Christen sind zu einer solchen Heiligkeit berufen. Die heilige Marguerite hat diese Glaubensüberzeugung gelebt, dadurch das vorausnehmend, an was das II. Vatikanische Konzil wieder erinnert hat, indem es auf die grosse Bedeutung « der allgemeine(n) Berufung zur Heiligkeit » hinweist. Das ganze fünfte Kapitel der Dogmatischen Konstitution « Lumen gentium » über die Kirche ist dieser Leitlinie des christlichen Lebens gewidmet: « Jedem ist also klar, dass alle Christgläubigen jeglichen Standes oder Ranges zur Fülle des christlichen Lebens und zur vollkommenen Liebe berufen sind. Durch diese Heiligkeit wird auch in der irdischen Gesellschaft eine menschlichere Weise zu leben gefördert. »

 

Nicht Kopien, sondern einzigartige Beispiele der Heiligkeit

Die Heiligkeit ist weder ein Luxus noch ein Privileg einiger weniger; sie ist die Bestimmung aller. Jeder Christ ist berufen, seinen eigenen Weg auf dem Weg zur Heiligkeit zu gehen. Schon vor vierhundert Jahren hat der heilige Franz von Sales, der berühmte Bischof von Genf, diese Glaubensüberzeugung mit folgenden Worten ausgedrückt: « Ein Bischof soll und kann nicht leben wie ein Kartäuser, ein Ehepaar nicht wie die Kapuziner. Die Handwerker sind nicht kontemplative Mönche, die die halbe Nacht und den halben Tag lang beten… Jeder auf seine Weise ». Die christliche Berufung zur Heiligkeit geschieht in unzähligen Formen und kann in jedem Lebensstand und jedem Beruf gelebt werden.

Die christliche Berufung zur Heiligkeit bedeutet daher nicht einfach, die grossen Heiligen zu imitieren oder zu kopieren; sie soll vielmehr in jedem Leben, das einzigartig und nicht austauschbar ist, vollzogen werden. Gott will nicht, dass Christen, die nach Heiligkeit streben, einfach Kopien sind, sondern Originale, wie es Papst Franziskus treffend unterstreicht: « Worauf es ankommt, ist, dass jeder Gläubige seinen eigenen Weg erkennt und sein Bestes zum Vorschein bringt, das, was Gott so persönlich in ihn hineingelegt hat (vgl. 1 Kor 12, 7), und nicht, dass er sich verausgabt, indem er versucht, etwas nachzuahmen, das gar nicht für ihn gedacht war. » Denn der lebendige Gott hat jedem von uns auf seine Art gegeben, zur Heiligkeit zu gelangen, so wie es uns auch die Kirchengeschichte mit ihren vielen Heiligen zeigt, die sich jeweils voneinander unterscheiden durch den einzigartigen Charakter ihrer menschlichen Person und ihres geistlichen Charismas.

Wenn wir uns mit der Heiligen Schrift beschäftigen, treffen wir noch auf eine weitere Facette der christlichen Heiligkeit. Sie setzt nicht voraus, dass man sich nie geirrt oder nie gesündigt hat. Sogar die heiligen Apostel sind nicht « vom Himmel gefallen », es waren Menschen wie wir, mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen. Jesus hat sie berufen, nicht weil sie schon Heilige waren, sondern damit sie zu Heiligen werden. In der Heiligen Schrift ist eine Lebensweisheit verborgen, die Chesterton so formuliert hat: « Man erkennt einen Heiligen daran, dass er sich bewusst ist, dass er ein Sünder ist ».

 

An der Heiligkeit Gottes teilhaben

Die christliche Heiligkeit ist nicht das Gegenteil der Sünde, aber sie nimmt zu mit der Fähigkeit zur Bekehrung. In der Tat erkennt man einen Heiligen nicht nur daran, dass er weiss, dass er ein Sünder ist, sondern auch daran, dass er im Bewusstsein des Gläubigen lebt, der weiss, dass es für Gott keine « hoffnungslosen Fälle » gibt, Gott, der jedem einzelnen die Möglichkeit anbietet, neu zu beginnen. In einem solchen Vertrauen zu Gott zu leben ist schon christliche Heiligkeit. In unserem gewöhnlichen Alltag in Gott und mit ihm leben, sich nach ihm sehnen und sein Leben in einem Geist des Glaubens nach ihm ausrichten, das alles macht die christliche Heiligkeit sichtbar, so wie dies auch im Leben der heiligen Marguerite geschehen ist.   

Gewiss hat sie uns eine andere Facette der Heiligkeit gezeigt: Heilig zu werden und heilig zu sein bedeutet ganz zu verwirklichen, was wir schon sind. Ein solcher Satz mag auf den ersten Anblick seltsam erscheinen, aber er drückt die wichtigste Botschaft unseres Glaubens aus, sc. dass wir nicht vermögen, uns selbst zu heiligen, sondern vielmehr geheiligt werden, ja dass wir durch unsere Taufe schon geheiligt wurden. In der Heiligen Schrift werden alle Getauften « Heilige » genannt, nicht etwa weil sie makellos sind oder keine Fehler gemacht hätten. In Wirklichkeit sind die Getauften Heilige, weil sie von Christus im Sakrament der Taufe geheiligt wurden.

Schliesslich können wir uns fragen, was überhaupt ein heiliger Mensch ist; die Antwort darauf lesen wir in der Präfation von den Heiligen: « Die Schar der Heiligen verkündet deine Grösse, denn in der Krönung ihrer Verdienste krönst du das Werk deiner Gnade. » Wenn wir von heiligen Personen sprechen, so sprechen wir unweigerlich von Gott. Denn Gott allein ist heilig und die Menschen können es nur werden, indem sie voll und ganz in Gott verwurzelt und für ihn transparent sind. Ein Heiliger ist ein Mensch, der seinen aufrichtigen und grössten Herzenswunsch ganz auf Gott setzt, der unendlich ist, und der bestrebt ist, Gott durch sein Leben zu ehren. Ein Heiliger ist eine Person, die so offen und bereit ist, Gott aufzunehmen, dass dieser wirklich zu ihr kommen und von ihr empfangen werden kann, so dass Gottes Ankommen in ihm Wirklichkeit wird.

Wenn wir einen Heiligen verehren, dann ehren wir Gott und loben ihn, genauer: wir loben die Wiederkunft Gottes und sein siegreiches Kommen in dieser Person. Die katholische Glaubenspraxis der Verehrung der Heiligen ist in ihrem Vollsinn die Anbetung Gottes, das Ergebnis der Einheit zwischen der Gottesliebe und der Nächstenliebe. Durch die Verehrung eines Heiligen und auf unsere vertrauensvolle Bitte hin, für uns einzustehen, lieben wir Gott in ihm, denn er hat ihn ganz aufzunehmen gewusst, so dass Gott in ihm dem Menschen wohlwollend entgegenkommt.

In Bezug auf die Heiligen hat der grosse Theologe Origenes im 3. Jh. n. Chr. gesagt, dass ihre Nächstenliebe im Jenseits nicht abnimmt. Denn sie sind noch näher bei Gott, noch näher bei den Menschen. Das gilt bestimmt auch für die heilige Marguerite Bays, die in ihrem Leben so innig mit Gott verbunden war, dass sie Gott auch im Menschen gefunden hat und ihm ihre gnädige Fürsprache zu Gott erwiesen hat. Diese gelebte Einheit zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe, die ihr Leben auf Erden charakterisiert hat, setzt sie in der Ewigkeit fort.

In dieser Gewissheit bitten wir die heilige Marguerite Bays, für uns beim lebendigen Gott einzustehen, auf dass er uns die Kraft und den Mut gebe, uns immer mehr einzutauchen in das Geheimnis des Lebens dieser Heiligen, für die Gabe der Heiligkeit, die er uns in unserer Taufe geschenkt hat, zu danken, unsere persönliche Berufung zur Heiligkeit wiederzuentdecken und bis ins unser Innerstes zu vertiefen, damit auch wir, wie Paulus in der heutigen Lesung, die Heiligen, die berufen worden sind, empfangen können: « Gnade sei euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. » Amen.

Lesung: Röm 1, 1-7

Evangelium: Lk 11, 29-32.

Heiligsprechung Marguerite Bays 2019